Grenzen ziehen – Kartografie, Territorien und die Aushandlung von Raum in historischer Perspektive

Donald Trumps symbolische Umbenennung geografischer Bezeichnungen und Russlands Einsatz historischer Karten zur Rechtfertigung des Ukrainekriegs zeigen, dass Kartografie ein wichtiges Instrument in der Konstruktion politischer Territorien ist. Karten sind keineswegs neutrale Darstellungen geografischer Räume, sondern haben eine lange Geschichte als Werkzeuge der Macht. In unserem Workshop betrachten wir mehrere historische Beispiele dafür, wie (handgezeichnete und gedruckte) Karten zur Formierung und Auflösung territorialer Ansprüche beigetragen haben. Wir analysieren die visuellen und narrativen Strategien sowie die Zielgruppen der Karten und reflektieren über heutige kartografische Praktiken zur Grenzziehung und zur Kommunikation territorialer Ansprüche.

Fallstudie 1: Augenscheinkartografie im frühneuzeitlichen Deutschland

Eine kartografische Tradition, die eng mit rechtlichen Grenzstreitigkeiten verbunden ist, ist die sogenannte „Augenscheinkarte“. Im deutschsprachigen Raum, wo diese Karten seit dem frühen 16. Jahrhundert verbreitet sind, werden sie auch „Streitkarten“ genannt. Der Begriff bezeichnet eine handgezeichnete Karte, die nach einer Ortsbegehung ohne formale Landvermessung topografische Gegebenheiten nur grob wiedergibt.

In Archiven sind solche Karten oft im Kontext umfangreicher Gerichtsakten überliefert, weshalb die ältere Forschung annahm, sie seien eigenständige Beweismittel. Neuere Studien zeigen jedoch, dass sie eher illustrative Beilagen waren, deren Bedeutung sich erst im Zusammenspiel mit den Textquellen erschließt. Zudem fanden sie auch außerhalb gerichtlicher Verfahren Verwendung. (Timpener, 2022) Besonders viele Augenscheinkarten aus der Frühen Neuzeit sind aus dem Rheinraum überliefert, da der Rhein als Handelsweg und Finanzressource durch Zoll- und Stapelrechte für alle anliegenden Herrschaften attraktiv war. Hier entstanden oft künstlerisch anspruchsvolle Karten mit vielen naturalistischen Details. (Kümper, 2023, S. 57)

Andere Karten sind stark abstrahiert und konzentrieren sich auf wenige Schlüsselelemente wie Grenzsteine. Die unten eingebettete Karte (Abb. 1.1) stammt aus dem Hessischen Staatsarchiv Darmstadt und ist eine minimalistische Skizze von 1628. Sie zeigt die ungefähren Grenzen der drei Dörfer Angenroth, Gleimenhain und Fischbach sowie ihre Lage zu den Territorien Hessen-Darmstadt, Hessen-Kassel und Kurmainz:

Karte HStAD P 1, 2522

Abb. 1.1: Karte HStAD P 1, 2522, mit freundlicher Genehmigung des Hessischen Staatsarchivs

Die Karte wurde von Rentmeister Daniel Ludwig Lüncker in der nahegelegenen Stadt Alsfeld vermutlich im Auftrag der landgräflichen Regierung Hessen-Darmstadt angefertigt. Sie misst 33 x 42 cm und wurde auf Papier gezeichnet.

Originaltitel:

„Ungefehrer Abriß dardurch nurentgezeiget würd, wie die drei Dorff Angenroht, Gleymenhain sowie Fischbach ... Landgraf Georgen zu Hessen etc. Land und an Kurmainz und einesteils an Hessen-Kassel stoßen.“

Alsfeld, wo die Karte erstellt wurde, war vom Mittelalter bis in die Frühe Neuzeit ein bedeutender und oft umkämpfter Handelsplatz. Die Stadt schloss sich der Reformation an, gehörte im 16. und 17. Jahrhundert wie viele umliegende Dörfer zu verschiedenen Fürstentümern der Region. Seit 1567 gehörte Alsfeld zu Hessen-Marburg und ab 1604 zur Landgrafschaft Hessen-Darmstadt. Der Dreißigjährige Krieg richtete große Schäden an, und die Stadt wurde von verschiedenen Heeren besetzt, darunter 1622 von Braunschweig-Wolfenbüttel und 1640 von schwedischen Truppen. Im Hessenkrieg von 1645 bis 1648 lag Alsfeld an der Grenze der beiden Konfliktparteien Hessen-Darmstadt und Hessen-Kassel. Dieser Krieg, der zu einer langen Reihe von diplomatischen und militärischen Konflikten zwischen den Familienzweigen des hessischen Fürstenhauses gehörte, ging zurück auf eine Erbteilung nach dem Tod des letzten gesamthessischen Landgrafen Philipp I. im Jahre 1567.

Heute ist Alsfeld eine vergleichsweise kleine Stadt, und die umliegenden Dörfer wurden in größere Verwaltungseinheiten integriert. Die Karte in Abb. 1.2 zeigt Angenroth, Gleimenhain, Fischbach und Alsfeld in einer ländlichen Region des heutigen Deutschlands:

Mapbox OSM Alsfeld

Abb. 1.2: Moderne Karte der Region Alsfeld, erstellt mit Geojson.io von Monika Barget

Zum Vergleich kann eine gedruckte Karte derselben Region aus dem späten 17. Jahrhundert herangezogen werden (Abb. 1.3):

Kupferstichkarte

Abb. 1.3: Kupferstichkarte von G. C. Jung, 1692, fotografiert von Antiquariat Bierl

Diese Karte wurde 1692 von G. C. Jung in Nürnberg als Kupferstich gefertigt. Sie misst 14 x 19,5 cm und ist Teil eines 64-teiligen Kartenwerks mit dem Titel Franconiae mappa locupletissima.

Diskussionsfragen:

Literatur:

Timpener, Evelien. "3 Von der Inaugenscheinnahme zur Karte. Das Verhältnis zwischen Text und Bild." In Augenschein genommen: Hessische Lokal- und Regionalkartographie in Text und Bild (1500–1575), Berlin, Boston: De Gruyter Oldenbourg, 2022, pp. 68–124. https://doi.org/10.1515/9783110777598-004

Kümper, Hiram. "Streit um den Rhein: von Zöllen, Sand und ganz viel Ärger." Mannheimer historische Schriften, Nr. 3, Universität Mannheim, 2022, pp. X–Y. https://majournals.bib.uni-mannheim.de/download